Tagebuch
Rock ‚n‘ Roll
14.03.24 05:08 Abgelegt in: Tennessee

Jürgen am Sun Studio, Memphis, Tennessee
Ein gesamter Tag in Memphis, Tennessee, der Stadt von Blues, Soul, Rock, dem Mississippi und natürlich „King Elvis“.
Memphis wurde nach der gleichnamigen Stadt am Nil benannt (Bedeutung: „guter Wohnsitz“) und war einst eine bedeutsame Hafenstadt mit zeitweise an die 300 Schaufelraddampfern dicht an dicht an den Sandbänken des Wolf River. Mit verarmten Farmern und arbeitslosen schwarzen Landarbeitern, die auf der Suche nach dem großen Glück zu Tausenden nach Memphis strömten, kam eine neue Musikrichtung in die Stadt: der Blues. Dieser fand später in abgewandelter Form seinen Weg nach New Orleans. In früheren Zeiten noch als „Hillbilly“ abgetan, schaffte William Christopher Hardy schließlich mit dem legendären „Memphis-Blues“ den Durchbruch. Hardy spielte seinen Blues in der Beale Street, der Amüsiermeile der Flussschiffer (sein Haus haben wir übrigens heute Abend ganz zum Schluss noch gefunden). Seither ist die Beale Street als eine der Geburtsstätten des Blues bekannt und seit 1966 auch „National Historic Landmark“ der USA. Gestern hatten wir hier ja schon den B.B. King Blues Club besucht.
Mitte der 1950-er Jahre legte ein großer Sohn der Stadt den Grundstein für eine weitere neue Musikrichtung: Elvis Presley, der „King of Rock ‚n‘ Roll“. Er wurde in Tupelo, Mississippi (da fahren wir morgen hin) geboren, lebte aber bereits seit seinem 13. Lebensjahr in Memphis und wurde hier vom Besitzer der „Sun Studios“ entdeckt. Er lebte bis zu seinem Tod 1977 in seiner Villa Graceland im Süden der Stadt. Auch Graceland wollen wir uns morgen anschauen.
Ich kann es vorwegnehmen: der Tag war wieder mal grandios und gespickt von sehr nachhaltig eindrucksvollen Erlebnissen. Aber er war auch mordsanstrengend; wir haben 14,3 Kilometer auf der Uhr, alle Asphalt.
Nach dem Frühstück sollte gleich das Highlight umgesetzt werden: eine Besichtigung des legendären Sun Studio. Karten kann man nicht online reservieren, es gilt „first come, first serve“. Das Studio öffnet um 10:00, die erste Führung ist um 10:30 Uhr. Also sind wir um 09:30 Uhr dort, um ganz sicher Karten zu bekommen, wir kennen das Prozedere ja nicht. Es ist erst eine Dame da, das sieht gut aus für uns.
Hier im Sun Studio wurden die ersten Plattenaufnahmen von Elvis produziert. Aber auch Johnny Cash, B.B. King, Muddy Waters, Howlin’ Wolf, Ike Turner, Jerry Lee Lewis, Roy Orbison und viele andere haben hier Platten aufgenommen. Das Studio ist bis heute in Betrieb, aufgenommen wird meist nachts, den tagsüber sind ja Führungen. Sam Phillips hatte hier 1952 das unabhängige Label „Sun Records“ gegründet, das trendsetzend war für die Entwicklung des Rhythm and Blues, der Rockabilly- und Rock ‚n‘ Roll-Musik. Wir machen die ersten Aufnahmen draussen, als noch niemand da ist.
Das Gebäude ist nicht groß, die Gruppe mit 40 Personen aber auch nicht klein. Ich habe das wahnsinnige Glück, immer als erster in die Räume zu kommen und so schnell Fotos machen zu können, bevor alles zu voll ist. Josh heißt unser Guide, ein junger Mann, der sehr engagiert und schwungvoll zu Werke geht. Immer wieder spielt er Musikbeispiele ein, er ist per Streaming mit Boxen verbunden, was kurze Reaktionszeiten, einen tollen Sound und eine einzigartige Atmosphäre ermöglicht.
Es ist völlig unmöglich, die Emotionalität und vermittelten Fakten dieses Besuchs hier wieder zu geben. Alles beginnt mit 30 Minuten Warten im Foyer, das schon gespickt ist mit Erinnerungsfotos, Platten und allerlei Krams aus den 50ern. Als es losgeht kommen wir zunächst im 1. OG in eine Art „Studiomuseum“. Hier sind alte Aufnahmegeräte und -techniken ausgestellt, Instrumente, wieder Fotos, Platten etc. Außerdem befindet sich hier das Originale Sendestudio vom „Memphis-Sender WHBQ“. Für mich ist das das allererste DJ-Pult mit zwei Plattenspielern beeindruckender Größe inkl. Sendetechnik. Der Sender soll gleich noch eine Rolle spielen!!
Als hier alles erläutert und gesehen ist, gehen wir alle (ich voran) runter in den heiligen Gral - das eigentlich Studio aus den 50er Jahren , welches heute noch genutzt wird. Und kein Witz (!!!) als wir da reingehen, sind alle mucksmäuschen still, als wenn wir eine Kirche betreten würden. Für manche klingt das jetzt vielleicht total bescheuert. Für mich und uns andere ist es das überhaupt nicht. Ich kenne diesen Raum aus Filmen (Walk the Line, Elvis etc.). Hier ist Elvis entdeckt worden, Johnny Cash hat hier ebenfalls seine ersten Aufnahmen gemacht (Walk the Line, Folsom Prison Blues u.a.), Jerry Lee Lewis hat hier aufgenommen, B.B. King und so viele andere. Und jetzt stehen wir hier, machen Fotos, hören Musik, sehen die Technik, die z.T, noch aus den 50ern stammt.
Echte Schätzchen von Gitarren, Amps, denen man ihr Alter definitiv ansieht, Mikros, die (angeblich) noch diejenigen sind, die Elvis, Johnny & co genutzt haben. Josh erzählt, wie der 18-jährige Elvis hier eine Aufnahme machen wollte. Sam Phillips war sehr angetan von ihm, mochte aber diese ständigen Balladen nicht. Er wollte schon gehen, als Elvis mit seiner Gitarre durch den Raum geht und „It’s allright“ (einen seiner Lieblingssongs) schrummelt. Josh macht es vor - hier ist er langgetigert, immer hin und her. Und durch diese Tür kam Sam zurück und sagte: „Das nehmen wir auf!“. Nur zwei Tage später hat der Radiosender WHBQ (s.o.) diesen Titel gespielt und auf Nachfrage in einer Nacht 14 Mal (!!!) Wiederholt. Der Rest ist Musikgeschichte!
Die Wände sind studiolike mit Akustikplatten verkleidet, denen man ihr Alter ebenfalls ansieht. Überall hängen Fotos - z.B. das von Elvis mit Johnny Cash und Carl Perkins. Elvis sitzt an dem Piano, das genau hier unter dem Bild steht. Das coole Foto vom „Man in Black“ spricht für sich. Am Ende Düren wir mit dem alten (Original?-) Mikro spielen. Wieder draussen ist der Himmel knackeblau und wir machen noch ein paar Bilder. Auf dem Rückweg zu Hotel finden wir schöne und bunte Wandmalereien. Der Besuch muss erstmal einige Wochen sacken - ich habe noch unzählige Fotos. Bei Interesse: bitte melden!
Kurzer Restroomstop im Hotel - außerdem haben wir Durst. Zack, wieder eine Flasche Wasser weg. Und weiter geht es in die Downtown. Dabei kommen wir wieder bei den Memphis Redbirds vorbei. Richtig fettes Baseballstadion mitten in der City. Und gegenüber ist der Superdome der Basketballer (Memphis Grizzlys).
Wir erreichen das nahegelegene „The Peabody Hotel“. Das historische Grandhotel begeistert auch heute noch durch seine Größe und Eleganz, vor allem in der riesigen Lobby. Hauptattraktion sind - neben dem wirklich imposanten Gebäude - die Enten („Peabody Ducks“). Täglich um 11:00 werden sie vom Ententrainer (ich wusste bis vor einigen Wochen nicht, dass es sowas gibt!) in die Lobby geführt - um 17:00 geht es zurück. Als wir ankommen, plantschen die Enten schon. Leute schlürfen ihre Cocktails oder einen Kaffee, im Hintergrund ein Flügel, der sich von selbst spielt - oder von einem Geist bedient wird, den ich nicht sehen kann. Gabi hat ein Video - spooky!
Weiter geht es zum Flussufer und von da eine ganz schöne Strecke am Mississippi entlang bis zum Tennessee Welcome Center. Hie Rist irgendwie niemand im riesigen Gebäude; wir machen Bilder von den überlebensgroßen Bronze-Statuen von B.B. King und Elvis Presley.
Gabi möchte unbedingt noch bis zur Pyramide weiterlaufen, in der sich die gigantischen „Bass Pro Shops“ befinden. Wir haben so einen schon mal (ich glaube in Denver, Colorado) besucht. Hier wird Einkaufen zum Erlebnis. Es gibt massig ausgestopfte Tiere, in Landschaften angeordnet. Aber auch Teiche mit großen Fischen, Aquarien und eine Anlage mit mehreren Alligatoren, die man hier sehr gut beobachten kann, sind vorhanden. Besonders imposant sind die Angel- und Jagdabteilungen. Hier gibt es alles, von der kleinsten Rute bis zur größten Langwaffe, mit der man wahrscheinlich (Gott bewahre!) auch Elefanten erlegen kann. Die Restrooms sind hinter der Shootinganlage, in der auch die Kleinsten schon über Kimme und Korn üben können. Es gibt aber auch alles andere, was das Outdoorherz höher schlagen lässt. Natürlich ist auch ein Hotel in die Pyramide integriert. Amerikanischer Wahnsinn - aber sehr gut gemacht!
Rückweg zur Mainstreet, historische Bahnen, Pferdekutschen im Cinderella-Design, nachts beleuchtet. Es gibt aber auch im Individualverkehr sehenswerte Fahrzeuge - wendig, schnell, und laut!
So kommen wir an der Beale Street an, wo wir gestern schon bei B.B. King hinein geschnuppert haben. Zunächst schauen wir beim A. Schwab’s General Store hinein, einem riesigen Ramschladen auf mehreren Ebenen, der seit 1876 im Besitz der Familie Schwab ist. Hier findet man wirklich alles, von Voodoozubehör bis zu alten Wahlplakaten und das Motto „If you can’t find it at A. Schwab’s, you’re better off without it“ hat bis heute seine Gültigkeit. Sogar zu meinem T-Shirt farblich abgestimmte Perücken haben sie.
Die Beale Street war schon früher die Amüsiermeile der Flussschiffer, die dort Musik & Glücksspiel suchten und fanden. Hinter fast jeder Tür hören wir Blues und Rock ‚n‘ Roll. Die Kunst ist es, die Kneipen oder Biergärten zu finden, wo einem nicht die Ohren wegfliegen.
Mit dem „Silky O'Sullivan's Grillrestaurant“ finden wir genau so einen Biergarten. Kühles Bier, Cider und BBQ-Nachos zum Teilen kommen jetzt genau richtig. 9 Kilometer sind wir schon gelaufen. Für die Musik sorgt ein junger Mann mit Gitarre - good Job!
Qual der Wahl: gerne würden wir noch ins Rock’n’Soul Museum gehen, das angeblich beste Museum zum Thema Musikgeschichte in der Stadt. Thema sind dort die Anfänge der Rockmusik und ihre geschichtliche Bedeutung für Memphis und die ganze Welt. Andererseits können wir Memphis nicht verlassen, ohne das National Civil Rights Museum im ehemaligen Lorraine Motel zu besuchen. Hier fiel der Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. vor der Türe des Zimmers Nr. 306 am 04. April 1968 einem Attentat zum Opfer. Heute beherbergt das Haus eine sehr umfassend angelegte und didaktisch gut aufgebaute Ausstellung zur Geschichte der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die alle wichtigen Ereignisse der 1950er- und 1960er-Jahre beleuchtet. Das ist unser nächstes Ziel.
Auf dem Weg dorthin passieren wir noch den Martin Luther King Jun. Reflection Park. Die Worte aus seiner „I have a dream“-Rede (über die ich übrigens im Abi in Englisch LK schreiben musste) gehen mir auch heute noch unter die Haut. Wir erreichen das ehemalige Lorraine-Motel, das im Grunde so aussieht, wie so manches Motel, in dem wir Urlaub machen - nur das die Ausstattung inzwischen meist deutlich besser geworden ist. Auch das macht etwas mit dir: dort zu stehen und auf die Zimmertür von „306“ zu schauen und zu wissen, hier ist es passiert.
Die Eingangskontrolle ist wie am Flughafen: alles wird angesehen und gecheckt - auch heute noch hat man offensichtlich Sorge vor Anschlägen. Ein wie immer eindrucksvoller Film stimmt uns ein. Dann geht es zu den Ursprüngen der Rassendiskriminierung, der Zeit der Sklavenhaltung bis hin zum Bürgerkrieg. Wir entdecken Dokumente, Fotos und Zeichnungen, die wir bereits aus Savannah und Charleston kennen. Hier hat man auch mal Figuren so hingesetzt, wie die Sklaven auf ihrer Reise von Afrika zur Ostküste zusammengepfercht waren. Da wurde jeder Zentimeter genutzt. Furchtbar.
Der Bus, in dem Rosa Park im Dezember 1955 den Busboykott auslöste, ist ebenfalls ausgestellt - wir können hindurchgehen. Rosa hatte sich der Anweisung des weißen Busfahrers (die wir immer wieder hören, als wir durch den Bus gehen), aufzustehen und einer Weißen Platz zu machen, widersetzt und war dafür inhaftiert worden. In der Folge boykottierten Schwarze die Busfahrten komplett bis Dezember 1956. Für mich bezeichnenden Schrifttafeln habe ich auch mal bei den Fotos platziert. „Sanitation Worker“ sind Müllwerker - bezeichnend, wie sie behandelt wurden, wenn sie eine schwarze Hautfarbe hatten.
Die weiteren Proteste bezogen sich auf Sitzblockaden, die gewaltsam gebrochen wurden und die „I am a man“ Bewegung. Im Ergebnis: Gewalt, Tote (auch Kinder) - bis hin zu Martin Luther King. Plötzlich stehen wir vor eine Glasscheibe, hinter der sich das Zimmer 306 befindet - hier hat Martin Luther King jun. seine letzte Nacht verbracht. Ohne Worte!
Gegenüber dem Museum sitzt Jaqueline Smith, die seit 1987 dagegen protestiert, dass sehr viel Geld für das Museum ausgegeben wurde, das gesamte Hotel jedoch leer steht, obwohl es in Memphis viele Bedürftige und Obdachlose gibt. Das sei nicht im Sinne von Martin Luther King Jr. Gabi unterhält sich mit ihr.
Um die Ecke befindet sich das Blues Hall of Fame Museum - ich mache aber nur ein Foto. Gegenüber finden wir eine eine Wandmalerei, die das „I am a man“-Thema noch einmal aufgreift.
Leider ist es nun zu spät, um auch noch das Rock’n’Soul Museum anzuschauen - hätten wir tatsächlich noch gemacht! Statt dessen nehmen wir nun noch einmal die Beale Street ins Visier. In einer Rooftop-Bar trinkt Gabi einen zweifelhaften Cocktail, der in einem Bein serviert wird. Viel Besser geht es uns anschließend in der Ghost River Brewery. Super Bedienung, leckeres Bier, tolles Essen, gute Preise. Und draussen spielt Live-Musik, die uns aber dort auch zu laut ist, so dass wir lieber innen sitzen.
Zum Abschluss ein kurzes Fazit: Memphis gilt als gefährliche Stadt, ja sogar als „Mordhauptstadt"; die Kriminalitätsrate ist aktuell die höchste der Großstädte in den USA. Unter den unsichersten Städten der Welt liegt Memphis auf Platz 14 noch vor Kapstadt. In New Orleans und auch unterwegs haben uns Einheimische mehrfach geraten, gut aufzupassen. Das machen wir sowie so immer, haben wir aber natürlich ernst genommen.
Ich muss aber sagen, das sich ich mich hier - in den Bereichen, die wir besucht haben - immer sehr gut aufgehoben gefühlt habe. Außerdem ist Downtown inklusive der Beale Street echt angenehm zu Fuß zu entdecken. Die Stadt hat sehr viel zu bieten und die ständige Verbindung zum „Rock ‚n‘ Roll“ macht Lust auf mehr. Wenn möglich, würde ich länger bleiben oder wiederkommen. Also: alles gut.
Der Tag morgen gehört dem „King Rock ‚n‘ Roll“. Erster Programmpunkt: Graceland. Anschließend fahren wir wohl zu seinem Geburtstort - ich werde berichten!
Tagesetappe: 14,3 Kilometer (zu Fuß!)
Übernachtung: La Quinta by Wyndham Memphis Downtown, 310 Union Avenue, Memphis, TN 38103
B.B. King & Delta Blues
13.03.24 06:17 Abgelegt in: Mississippi | Tennessee

Jürgen im B.B. King Museum & Delta Interpretive Center, Indiola, Mississippi
Es ist 22:20 Uhr, die Fotos sind soweit versorgt, es fehlt nur noch das Tagebuch. Welch ein Tag - den werden wir ebenfalls niemals vergessen, in vielen Details. Hier einen vollständigen Bericht abgeben zu wollen wäre völlig vermessen. Daher „nur“ die Fakten und einige Emotionen. Wer mehr Details wissen möchte, spricht uns einfach an - wir berichten dann gerne.
Die Casinobetten waren nur zweite Wahl. Gabis Laken war so zerknittert, dass es schon fast als Kunst durchging; mein Bett war irgendwie „wellig gelegen“ und erinnerte so etwas an den Highway 61, der uns gestern so sanft auf und ab gewogen hat. Über Nacht ist das dann eher lästig mit den ständigen Kuhlen.
Da es hier kein Frühstück gibt sind wir schnell fertig gepackt und rollen vom Parkplatz. Heute liegt mit fast 400 Kilometern der längste Streckenabschnitt vor uns . Und das ist auch noch einer, auf dem es wirklich sehr viel zu entdecken gibt. Nun sind 400 Kilometer ins den Staaten nicht zu vergleichen mit einer gleich langen Strecke auf deutschen Autobahnen. Wenn hier 65 Meilen/Std. Erlaubt sind, dann fährst du die auch - das macht es viel entspannter, muss aber auch erst mal gefahren werden.
Also, wir rollen vom Parkplatz und da geht diese blöde Reifendruckkontrollleuchte an. Wenn man schon so einen Namen hat kann das nichts Gutes bedeuten. Warum soll der hintere rechte Reifen plötzlich 10 psi weniger haben als seine drei Kollegen? Kurz aussteigen und gegen den Reifen treten (das ist der Volltrotteltest, der nichts aussagt, einem aber das Gefühl gibt, einfach mal ein Stück fahren zu können, wenn der Reifen sich noch halbwegs prall anfühlt). Das tut er und auf geht es, immer mit der Frage im Bauch, ob uns hier die Elektronik veräppeln will oder wirklich ein Problem vorliegt. Wir fahren mal eine halbe Stunde und die Differenz bleibt. Die Kollegen haben sich jetzt auf 38 psi aufgewärmt, das Sorgenkind hat aber auch nur zwei zugelegt und steht jetzt bei 28. Also bis Memphis kann ich nicht einfach den Ignoranten spielen - ich fahre zwei Tankstellen an, die aber keinen Reifendruck messen können - Reifen machen wir nicht (du kannst aber 20 Kaffeekreationen kaufen, aus 40 Snacks auswählen oder deinen Wocheneinkauf abwickeln). kenne ich schon von vor ein paar Jahren und es hat sich nicht geändert. Wir benötigen eine Werkstatt.
Den Hinweis, wo wir die am Wegesrand finden, bekomme ich bei der zweiten Tanke. Napa Auto Parts heißt der Laden und ich habe unglaubliches Glück. Gerade ist einer der Mechaniker frei geworden. Die Werkstatt sieht erwartungsgemäß rustikal aus, der junge Mann schnappt sich nach meiner Problembeschreibung aber sein Mini-Messgerät, nickt anerkennend, holt den Wagenheber und bockt unseren Hyundai auf (inkl. Gabi, die noch drinsitzt). Dann schraubt er unseren Reifen ab, bevor ich noch „piep“ sagen kann und verschwindet in seiner Werkstatt. Ich hinterher. Tatsächlich, da steckt ein fulminanter Nagel im Reifen, hat sich aber zwischen dem Profil versteckt - ich hätte den nie gefunden. Ich frage, was zu tun ist und er sagt, er mache mir einen „Patch“ rein. Ich bestätige und er löst Reifen und Felge, klebt einen Flicken von innen rein, montiert den Reifen wieder auf die Felge, aufpusten, ran ans Auto. Fertig. Hat keine halbe Stunde gedauert und ging technisch wie beim Fahrrad, nur mit mehr Kraft, Lärm und Tamtam. 20 Dollar kostet der Spaß nur und ich bin so erleichtert, dass ich ihm noch 10 Dollar Trinkgeld gebe. Supi!
Der Weg führt heute einen weiteren Tag über den Blues-Highway #61. Das Mississippi-Delta ist hier ein Binnendelta, dass sich von Memphis bis New Orleans erstreckt - eine ganz schöne Strecke. Das Delta steht vor allem für das Leid der Sklaven. Ihr Kommunikationsmittel war die Musik. Hier entwickelte sich der Delta-Blues, der zum Vorreiter der späteren Blues-, Jazz- und Rockmusik wurde. Im Verlauf des heutigen Tages habe ich das auch viel besser verstehen können: die schwere Arbeit und das Leid der Sklaven sind der eine Teil des Blues. Wenn die Arbeit aber den ganzen Tag darin besteht, zu pflanzen, zu ernten, zu pflücken und zu schuffeln dann ist der Blues mit seiner 12-taktigen Form zu jeweils 3 Liedzeilen bestens geeignet, Ordnung und Rhythmus in den Tag zu bringen. Singen bei der Arbeit - hat bestimmt geholfen.
Die Straße führt zunächst weiter durch weiche Hügel und von Kudzu-Efeu behangene Waldgebiete, die etwas an eine Märchenlandschaft erinnern. Es ist aber nicht mehr so schön wie bei Port Gibson und Natchez, dafür aber deutlich hügeliger. Später führt die #61 durch das eher eintönige Deltagebiet.
Unser erstes Ziel nach der Werkstattaktion ist Leland am Hwy. #278, direkt nebenan der #61. Jim Henderson, der die Muppets-Familie schuf, verbrachte seine ersten 13 Lebensjahre hier zusammen mit deinem Freund Kermit Scott. Das winzigkleine „Birthplace of Kermit the Frog Museum“ enthält Erinnerungen an Henderson (der viel zu früh mit Anfang 50 starb). Kermit, Miss Piggy, Fozzie Bär sowie die Balkon-Grantler Waldorf und Stattler finden wir hier, aber auch bekannte Freunde aus der Sesamstraße. Die ältere Dame, die hier freudig Auskunft erteilt (und Tiny Little Bear vergöttert) erklärt uns einiges und eben auch, dass Henderson die Sesamstraße mit Ernie, Bert und Kollegen ins Leben gerufen hat. Da werden Erinnerungen an die Kindheit wach.
Mureals zum Thema Blues gibt es überall in diesem kleinen Nest „Leland“. Wir finden welche am „Highway 61 Blues Museum“. Dieses enthält nur drei Räume voll Sammelsurium zum Thema Blues und ist geschlossen. Besichtigung nur nach Anmeldung - hatten wir eh nicht vor.
Nach dem Besuch von Leland fahren wir nicht wieder auf den Hwy#61 auf. Wir fahren noch nach Indianola, wo sich das B.B. King Museum & Delta Interpretive Center befindet. Hier weise ich auf mein Alter hin und bekomme Seniorenrabatt beim Eintritt. Im Museum werden B.B. Kings Leben (1925-2015), seine Musik und sein Werdegang vorgestellt. Hier erfährt man auch, welchen rassistischen Diskriminierungen selbst ein Star wie er auf seinen Tourneen ausgesetzt war. King wurde als Riley B. King im nahen Berclair geboren. Auch über andere Bluesmusiker kann man in dem groß und perfekt angelegten Museum etwas erfahren. B.B. steht übrigens für „Blues Boy“. Er war zu Lebzeiten aus den verschiedensten Gründen stets „homeless“ und hat Indianola immer als seine eigentliche Heimat bezeichnet. Daher hat während seiner vielen Tourneen und Engagements in anderen Städten immer Wert darauf gelegt, Zeit in Indianola zu verbringen. Als sein Leben zu Ende ging hat er dieses Grundstück für das Museum zu seinem Lebenswerk und dem Delta-Blues auserkoren und auch verfügt, dass er er hier beigesetzt wird.
Das Museum hat 18 Millionen Dollar gekostet, die zumeist aus Spenden zusammen kamen. Unfassbar, wie viel Einzelpersonen gespendet haben. Höchstbetrag 2 x 2 Mio. Dollar, aber auch viele fünf- und sechstellige Spender/innen. Daraus haben sich echt was gemacht. Zur Einführung sehen wir einen gut 10-minütigen Film, in dem auch Weggefährten wie Eric Clapton zu Wort kommen. Im eigentlichen Museum finden sich Erläuterungen zur Entstehung des Blues, es sind Alltagsgegenstände der 20er Jahre ausgestellt, die Situation der Schwarzen spielt die entscheidende Rolle, B.B.’s Leben, seine Instrumente, seine Einstellung, seine Autos und ein Tourbus, die Alben die er im Studio oder Live aufgenommen hat - ganz viel Stoff, super aufbereitet - dazu überall Musik (selbst draußen auf der Straße), Filme etc. Warum seine Gitarren alle „Lucille“ heißen? Schöne Gechichte, erzähl eich gern mal - wer es genau wissen möchte: in seinem Song „Lucille“ beschreibt er genau das.
Was mir besonders gefallen hat sind einige seiner Bemerkungen über diese Musik: „The Blues are the three L’s: living, loving and - hopefully - laughing“. „Blues wird nicht aufgeschrieben, Blues wird geboren und gelebt“. „Wenn die Musik gut ist, spielt die Hautfarbe keine Rolle mehr!“ Letzteres kam zustande, als er völlig verwundert in der Zeit der Hippiebewegung in den 60ern plötzlich nicht mehr vor 90% Schwarzen, sondern 95% Weißen jungen Leuten spielte und die ihm Standing Ovations gaben. Dass er überhaupt jemals für Weiße würde spielen können, war in den 50ern noch völlig undenkbar für ihn. Letzter Satz von ihm in der Ausstellung neben dem fantastischen Portrait: „I am trying to get people to see that we are our brother’s keeper. Red, white, black, brown or yellow, rich or pour, we all have the blues.“
Neben seiner Bronzestatue vor seinem Grab zu sitzen und an der Platte zu stehen, umgeben von vielen sinngebenden Sprüchen war schon einer der emotionalsten Momente dieses Tages. Gabi und ich haben ihn gemeinsam mit Georg vor fast 20 Jahren live in Köln gesehen. Seit heute ist das noch wertvoller.
Als wir das Museum verlassen kommen 3 Busse (schwarze) Schulkinder im Grundschulalter an. Es gibt einen Teil des Museums, wo speziell mit Kindern gearbeitet wird. Vielleicht haben wir einen der Stars der Zukunft gesehen? Wir waren jedenfalls fast allein im Museum, was uns natürlich gut getan hat.
Wir nehmen die Nebenstrecke zur „Dockery Farms Foundation“. Dass diese auch über meilenlange dirtroad führt wusste ich nicht. Augen zu und durch - der Reifen hält. Die Dockery Farms Foundation ist eine ehemalige Baumwollplantage von 1895, die viele Musiker (u.a. B.B. King) als „Birthplace of the Blues“ bezeichnen. Hier sind wir ganz allein, es gibt noch nicht mal jemanden, der auf die Anlage aufpasst. Die Retro-Tankstele vorne ist ein schöner Foto-Spot. Hinten ist die Baumwollfabrik mit uralten Maschinen. Gespenstisch, wenn Gabi auf einen Knopf drückt und dann alter Blues aus vielen Lautsprechern klagend über die Anlage hallt. Toller Zwischenstop!
Unterwegs bekomme ich immer wieder Getränke (Cola Zero, Wasser) und Speisen (Sandwich, Orange, Chips, Nussmischung) aus dem Bordrestaurant gereicht, stilecht mit Schlabberlatz.
In Clarksdale, unserem nächsten Stop, viele Meilen weiter sind u.a. Howlin’ Wolf, Johnny Lee Hooker, Big Jack Johnson, Ike Turner, Sam Cooke, Muddy Waters und Rufus Thomas aufgewachsen. Nach einer kleinen Suche finden wir das Delta Blues Museum in einer alten Lagerhalle am Bahnhof. Wir finden Instrumente, Bühnenklamotten, Plakate, Aufnahmeequipment etc. der bekanntesten Musiker und eine besondere Abteilung zu Muddy Waters. Außerdem sind die Merkmale der einzelnen Musikrichtungen (u.a. Blues, Country, Jazz etc.) gut erläutert. Ich habe 4 Gitarren und den Fender Twin Reverb von John Lee Hooker gesehen - auch toll. Fotografieren darf man hier aber nicht - deshalb gibt es keine Bilder davon.
Außen machen wir Fotos, hier könnte mal jemand sauber machen. Ganz schön herunter gerockt, dieses Clarksdale. Aber schöne Wandmalereien (Mureals) haben sie hier neben dem „Ground Zero Blues Club“.
„The Crossroads“, wo der „King of Delta-Blues“ Robert Johnson dem Teufel für sein Ausnahmetalent seine Seele verkauft haben soll finden wir nach der Beschreibung im Museum an der Kreuzung der Highways #61 und #49. Hier stehen als Denkmal drei Gitarren montiert. Wir quatschen kurz mit einem Amerikaner, der hier gerade ein Time-Laps dreht. Er empfiehlt uns für heute Abend in Memphis „The Rendevouz Restaurant“ mit angeblich besonders guten Ribs.
12 Meilen nördlich von Tunica sehen wir das „Gateway to the Blues Visitor Center“ an der #61 liegen, aber an der anderen Seite der Straße. Das Visitor Center ist geschlossen um diese Uhrzeit und hier gibt es für uns auch nichts mehr zu sehen heute.
Manchmal macht so ein Navi ja komische Sachen. Warum ich die Abkürzung (das war wahrscheinlich der Grund für die Streckenführung) durch diese Neibourhood nehmen sollte weiß der Teufel. Hier sieht es noch viel rummeliger aus als in Clarksdale. Bruchbuden ungeahnter Zusammensetzung, Müll am Straßenrand - kein Wunder, da hält genau neben uns ein Auto und der Beifahrer schmeißt zwei Altreifen auf den Bürgersteig. Sitten haben die hier!
Die Gegend um unser Hotel ist aber „safe“. Wir beziehen das Zimmer, kümmern uns um die ersten Fotos und gehen dann nach Downtown. Schon nach 5 Minuten sind wir mitten drin, das Hotel liegt wirklich super! Und da ist auch gleich das empfohlene „The Rendevouz“. Puh, Seitenstraße, sieht auch eher nach Bronx aus. Aber: in den Eisenkästen mit den sehenswerten Kaminen vor (!) dem Restaurant werden die Ribs geräuchert.
Wir gehen rein, riesiger Laden, rappelvoll. Dennoch haben wir nach 5 Minuten einen Tisch und nach weiteren 10 Minuten unser Essen: Ribs „full slab for two“ mit Bohnen und Coleslaw. Super - Fritten machen die gar nicht. Nur Fleisch, Bohnen und Krautsalat. Einziges vegetarisches Gericht: „meatless red beans and rice“. Während wir essen spielt die alte Jukebox hinter uns „Rindin’ with the King“ - B.B. King und Eric Clapton zusammen - passt! Es schmeckt wirklich sehr gut - auch wenn Gabi sagt, dass meine Ribs besser sind. War aber wirklich super lecker und gar nicht so teuer inkl. Bier vom Fass und Cider. Beim rausgehen sehen wir die Dankesbriefe der amerikanischen Präsidenten und Stars, auch beeindruckend.
Jetzt noch in die Beale Street? Ja - kurz! Gleich zu Beginn liegt der „B.B. King Blues Club“, heraus tönt Live-Musik. Und was für eine! Rein, das ist der perfekte Tagesabschluss!! 10 Dollar Eintritt wegen Live-Musik der „B.B. King Allstars“. Geht klar. Auch hier: rappelvoll. Wir erobern zwei Hocker in der ersten Reihe, ich beschaffe Margarita und Bier - dann geben wir uns der Musik hin.
Leute - so was habe ich noch nicht gehört. Die verstehen ihr Handwerk. Drummer, Bassist, B.B.-King-Gitarrist, Keyboarder, der tatsächlich auch auf einer uralten Hammond (oder Wurlitzer?) spielt, Trompete, Sax (machen mächtig Alarm) und zunächst ein Sänger. Da geht voll die Post ab, nix trauriges - pralle Lebensfreude. Dann geht der Sänger und eine junge Frau mit Megafrisur geht ans Mikro. Die hat uns gepackt, weia! So können nur schwarze Stimmen klingen. Jeder Ton Gefühl, Reibeisen, zart, kreischend, schreiend - sensationell. Den Blues hat sie so was von drauf mit dieser Hammer-Band im Rücken, aber auch Tina Turner und Kolleginnen interpretiert sie auf ihre Art. Ihr „You make me feel like a natural woman!“ werde ich nie vergessen. Was hat die da rausgehauen - das höre ich im Leben nicht nochmal so. Grandios!! Georg: Wir haben den ganzen Tag aber gerade da sehr an dich gedacht.
Rückweg zum Hotel, Webseite, Tagebuch, aktuelle Uhrzeit: 23:45 Uhr. Gabi liest jetzt Korrektur und dann mache ich den Deckel drauf. Morgen gehört Memphis uns! Liebe Grüße!!
Tagesetappe: 393 Kilometer
Übernachtung: La Quinta by Wyndham Memphis Downtown, 310 Union Avenue, Memphis, TN 38103